Studieren in der gefährlichsten Stadt der Welt

Ann-Christin Kieter - 01.06.2016

Studium in Syrien

Trotz des Krieges ist Abeer in Syrien geblieben | Foto: SOS-Kinderdörfer weltweit/Abdalkader Al-Faya

"Der Waffenstillstand war merkwürdig"

UNICUM: Deine Mutter und dein Bruder leben noch immer in deiner Heimatstadt Aleppo in Syrien. Wie geht es ihnen?
Abeer Pamuk: Normalerweise starten Leute ein Gespräch mit den Worten "Hallo! Wie geht es dir?". Als ich letztens meine Mama dringend sprechend wollte, weil ich gehört habe, dass eine Rakete in der Nähe des Krankenhauses eingeschlagen ist, in dem sie arbeitet, erzählte sie sofort und ohne Begrüßung: "Mein Schatz, es ist gerade ein Kind in meinen Händen gestorben, es hatte einen Tennisball in der einen Hosentasche und ein paar Pennys in der anderen. Ich musste mir eben das Blut von meinen Händen waschen, um das Telefon zu halten und mit dir sprechen zu können." So mitgenommen war sie in ihrem ganzen Berufsleben noch nicht. Man muss damit leben, dass man niemals sicher ist, nirgendwo.

Würdest du Aleppo überhaupt noch als Stadt deiner Kindheit erkennen?
Nein. Man fühlt sich auch nicht mehr wie im 21. Jahrhundert, obwohl die Menschen die ganze Zeit versuchen, das öffentliche Leben mit kleinen Läden und Märkten wiederzubeleben. Ich würde sagen, dass maximal ein Zehntel der Stadt noch zugänglich ist. Der Waffenstillstand (ab dem 27. Februar, ca. 2 Monate lang, Anm. der Red.) war auch sehr merkwürdig. Es war auf einmal so ruhig, dass man die Vögel gehört hat. Das hat gar nicht zu dem Bild der völlig zerstörten Stadt gepasst. Wir hoffen alle, dass das der erste Schritt auf dem Weg zu richtigem Frieden ist.

Vorübergehende Flucht in den Libanon

Du hattest mit deinem Studium damals gerade begonnen, als die Unruhen begannen. Warum wolltest du unbedingt in Syrien bleiben?
Schon vor dem Krieg war es mein Ziel, eine Art Sprachrohr für leidende Menschen zu werden. Ich wollte die richtigen Worte lernen, um deren Geschichten zu transportieren und die Leute zu erreichen, die helfen können. Deshalb habe ich mich 2010 für Englische Literatur entschieden. Es war nie meine Absicht, Lehrer zu werden.

Etwa zwei Jahre später hat sich die Situation drastisch verschlimmert. Die Al-Nusra-Front, eine dschihadistisch-salafistische Organisation, besetzte die Straße hinter unserem Haus. Daraufhin bin ich für sechs Monate zu meiner Tante in den Libanon geflüchtet. In der Zeit kam es in Aleppo zu zwei schweren Explosionen in der Uni, genau in der Prüfungsphase. Viele meiner Freunde wurden getötet. Mein Bruder überlebte nur knapp. Da wurde mir bewusst, dass es nicht nur eine vorübergehende Krise ist. Ich ging zurück nach Syrien, um zu helfen. Außerdem wollte ich unbedingt ein Examen "meiner" Uni in den Händen halten.

Warum war dir das so wichtig?
Es sollte auch eine Art Zeichen sein. Bei meinem Job im Nothilfe-Team der SOS-Kinderdörfer hatte ich viel Kontakt zu Kindern, die teilweise seit zwei Jahren nicht mehr in der Schule waren, weil sie von Dorf zu Dorf gezogen und von einer Rakete zur nächsten gerannt sind. Sie haben von uns Schutz bekommen, wurden medizinisch versorgt und konnten wieder lernen. Wenn du sie dann in ihren Schul-Uniformen siehst, lachend, mit einem guten Zeugnis in der Hand hat - das ist ein großartiger Lohn deiner Arbeit. Wenn man keinen Wert auf Bildung legt, schauen wir irgendwann auf eine verlorene Generation.

Studieren wie im 16. Jahrhundert

Wie sehr war die Arbeit für dich mit Gefahren verbunden?
Irgendwann bin ich in das Hauptstadtbüro in Damaskus gewechselt. Mehrmals im Jahr musste ich für das Studium aber zurück nach Aleppo. Das ging nur über eine Wüstenstraße, die oft durch ISIS abgeschnitten war. Viele Leute sind dort erschossen worden. Überall auf dem Weg waren Scharfschützen. Einmal hat der Bus, in dem ich saß, zwei Kugeln abbekommen. Ich weiß noch, wie wir die Vorhänge geschlossen haben und unsere Köpfe nach unten gehalten haben.

Und wie war es, in der "gefährlichsten Stadt der Welt" zu studieren?
Es ist ein bisschen wie im 16. Jahrhundert. Keiner von uns Studenten hat je bei normalem Licht studiert, sondern immer nur bei schwachem Kerzenlicht. Krieg ist, wenn es überall kalt und dunkel wird. Der Mangel an eigentlich selbstverständlichen Dingen wie Wasser, Elektrizität und Medizin ist auch schlimmer als die Bomben. An Explosionen als Hintergrundgeräusch gewöhnt man sich.

Selbst wenn du eine Prüfung hast, sitzt du in einem Raum ohne Beleuchtung und Heizung. Du hörst die ganze Zeit nur Flugzeuge und schreiende Menschen. Die Dozenten sagen dann: "Beruhigt euch, schaut einfach auf eure Zettel!" Und irgendwie klappt das auch, sich zu fokussieren.

"Mein erster Gedanke war: Alle sind tot!"

Was ist das Schlimmste, das du selbst erlebt hast?
Der schlimmste Tag war der, den ich vorhin beschrieben habe. Also der Tag, an dem ich gar nicht an der Universität war, sondern noch im Libanon. Ich habe am Telefon erfahren, dass zwei Raketen unsere Fakultät getroffen haben. Mein erster Gedanke war: Alle sind tot. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich angefangen habe, alle Nummern in meinem Handy zu wählen. Ich wollte, dass jeder Einzelne rangeht und sagt, dass er o. k. ist. Das war bei der Verbindung aber gar nicht so einfach.

Nach und nach bin ich an Infos gekommen, habe erfahren, wer gestorben ist. Den Körper eines Freundes haben sie in einer Straße gefunden, seinen Kopf in einer anderen. Noch in der Woche danach konnte es passieren, dass man in der Uni menschliche Überreste findet. Aber wenn ich zurückblicke, ist eigentlich jede meiner Prüfungen mit dem Tod eines Bekannten verbunden. Einmal starben sogar zwei Nachbarn, sie waren Brüder und wurden von einer Rakete zerfetzt. Sie waren die ersten Leute, denen ich morgens "Guten Morgen" und abends "Gute Nacht" gesagt habe. Plötzlich ging das nicht mehr.

Wirst du irgendwann nach Syrien zurückziehen?
Ich möchte gerne noch etwas studieren, das mich in meiner Arbeit weiterbringt, das mich besser verstehen lässt, was in Syrien und im Mittleren Osten passiert. Ich suche nach verschiedenen Programmen, aber habe noch nichts Konkretes vor Augen. Auch kein Wunschziel. Um meiner Heimat zu helfen, muss ich nicht unbedingt direkt vor Ort sein.

Zur Person Abeer Pamuk

Abeer Pamuk (23) hat vor kurzem ihren Abschluss in Englischer Literatur an der Uni Aleppo in Syrien gemacht. Schon während des Studiums engagierte sie sich im Nothilfe-Team der SOS-Kinderdörfer – erst in ihrer Heimatstadt, dann in Damaskus.

Heute arbeitet sie hauptberuflich in der Kommunikationsabteilung des Regionalbüros der SOS-Kinderdörfer für Nordafrika und den Mittleren Osten in der marokkanischen Hauptstadt Casablanca.

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